Im Nachmittagsgrau betreten wir, bewaffnet mit brennender Lethargie, die durchlauchteste Stadt. Hinter dem Damm empfängt uns Santa Lucia in ihrem Kopf und speit uns sogleich wieder aus, hinaus auf den Platz hinter ihr, welcher dort von Lucias faschistoider Fassade begrenzt wird. Das ist nun also Venedig. Eine Stadt aus der Geschichte, bei der sich die Frage stellt, ob sie nur noch in ihrer eigenen Geschichte lebt oder ob sie mehr ist als nur ein Hort der Historizität.
Es ist Februar, die Woche des venezianischen Karneval. Davon ist allerdings nichts zu spüren, als ich mich erstmals in ein Vaporetto bugsiere. Mit dem Schiff fahre ich möglichst rasch weg vom Bahnhofsplatz, wo sich beim Kanal einige Touristen um bittstellende Musizierende scharen. Mein erster Eindruck von dieser Stadt überwältigte mich bereits ein bisschen. Gegenüber des futuristischen Bahnhofsgebäudes erwarteten meinen Blick die ersten historischen Bauten sakraler wie profaner Natur. Diese Mélange an Epochen verstärkt sich während der ersten Bootsfahrt, als das Vaporetto unter der modernen Ponte della Costituzione durchgleitet. Zu meinem Erstaunen verfügt das Vaporetto entgegen seinem Namen über keinen Antrieb via Dampfmaschine, doch es fährt trotzdem. Wir fahren entlang von Lagerhallen, Docks und Terminals für die Autofähren hinaus in die Lagune. Das Wetter ist trist an diesem Tag. Nebel hängt in der Luft, es windet und ist kühl. Giudecca Palanca ist erreicht, ich steige aus. Auf Giudecca ist alles still, alles scheint tot; doch hier werde ich für fünf Tage bleiben, von hier aus werde ich auf Venedig hinüber blicken. Zum ersten Mal denke ich: Die Stadt ist tot, gefangen in ihrer eigenen Geschichte.
Seit Ende dem letzten Jahr kommen aus China Meldungen über ein neuartiges Coronavirus, welches in Wuhan in der Provinz Hubei um sich greife und dort viele Menschen das Leben koste. In Venedig fällt auf, dass kaum asiatische Touristen mithelfen den Markusplatz zu füllen. Dieser erscheint gegenwärtig nämlich verstellt mit einer übergrossen Wand an Bildschirmen. Darauf wird entweder mit knallig orangem Hintergrund für Aperol Spritz geworben oder wenn auf der kleinen Bühne vor der Bildschirmwand ein DJ so tut, als würde er Musik abspielen, dann erscheinen auf der magischen Wand alle möglichen Farben in jensten Formen gleichzeitig. Die Musik ist laut, das Licht ist grell und der Platz ist leer. Ist dies der Karneval? Abseits des öden Markusplatz sind die Gaststätten in den Gassen anständig mit Besuchenden gefüllt. Zwischen einer Burratina con Pomodoro und den Agnolotti Spnaci e Ricotta schweift der Blick hinaus auf das städtische Treiben. Irritiert registrieren meine Augen das Vorüberziehen eines Paares, welches sich mit antiquierten Kostümen aufgetakelt hat und nun durch die Stadt paradiert. Sie tragen eine Maske, so dass man nicht erkennen kann, ob ihnen wohl dabei ist. Dieses Schauspiel wiederholt sich in den folgenden Tagen immer wieder, wodurch der Reiz verloren geht, die Auftritte dieser Paare mit einer Gefühlsregung, die die Gleichgültigkeit übersteigt, wahrzunehmen. Die Sonne scheint, es ist warm. Nachmittags am Zattere wird der erste Negroni bestellt. Da tritt ein solches Paar auf, ganz offensichtlich sind sie nicht Teil der autochthonen Bevölkerung, dies kann die Verkleidung in diesem Fall nicht verheimlichen. Zugegeben ist ihre Aufmachung in der Tat aussergewöhnlich und sie wissen dies auch. Leider können sie aufgrund des Kostüms kaum laufen, doch dass wollen sie gar nicht richtig. Alle paar Meter bleiben sie stehen und lassen sich dann von anderen Touristen fotografieren. Von nun an meide ich den Markusplatz. Mir hat ein Eindruck gereicht, um mir einen Geschmack des venezianischen Karnevals zu machen. Denn dieser erhielt an Nachgang durch die Gestalten aus allen Herren Ländern, welche sich abends in den Ristorante, Osterie und Trattorie unbehände hinsetzen und in Alltagstracht, aber mit einer schmalen schwarzen Binde über dem Gesicht ihren Hunger stillen. Meine Meinung steht: Der Karneval in Venedig ist laut und schlimm - und niemand geht hin.
Auf der Rialto-Brücke findet ein weit verbreitetes Phänomen statt. Ein grassierendes Virus, das schon längst global wütet, aber zum Glück kaum je Menschenopfer fordert, hat sich auch auf dieser Brücke über dem Canale Grande eingenistet. Zahlreiche Menschen stehen auf der Brücke, doch sie zeigen dem historischen Venedig ihre Rücken. Sie haben sich abgekehrt, blicken weg von der Aussicht hinein in die Frontkameras ihrer Mobiltelefone. Ein trauriges Spektakel, dass ich betrachte; in mir kommt der Wunsch nach Bakteriophagen auf.
Die Vaporetti fahren überall hin, wo man hin möchte. So auch auf die Friedhofsinsel San Michele. Hier findet sich noch mehr Ruhe als im sonstigen Venedig. Hier findet sich aber auch Igor Strawinski. In der Nähe von Chipperfields modern-mondänen Todeshäusern liegt der Komponist begraben. Nun, Strawinski ist noch immer tot, was nicht weiter überraschend ist, da sich dieser Zustand seit fast 50 Jahren nicht verändert hat. Was weiter auffällt auf dieser Toteninsel sind die Gräber für die Nonnen. Reihenweise weisse Kreuze bilden die systematische Grabordnung der Gewesenen. Die Grabmäler sind allesamt identisch; Nonnen, auch im Tod noch uniform. San Michele war früher nur ein Kloster, bis die Insel während der habsburgischen Herrschaft über die Lagunenstadt zum Friedhof ausgebaut wurde. Mit der Fremdherrschaft der Österreicher fand manch andere Neuerung in Venedig Einzug: Die Verbindung zum Festland via den Damm wurde errichtet, erstmals wurden Getränke gespritzt und ein italienisches Nationalgefühl entstand unter den Einwohnenden Venedigs, welches sich in der Repubblica di San Marco ephemer entlud. / Um von San Michele zurück in die Stadt zu gelangen, muss ein Vaporetto genommen werden, welches von Murano her kommt. Meines kommt, es ist hoffnungslos überladen mit Touristen.
Ist Venedig tot? Lebt die Stadt von der Inszenierung seiner selbst? Ist die Perpetuierung des Historischen eine Anbiederung an die Touristen, welche in Massen die Stadt strömen und ihr Geld ausgeben? Neben vielen Orten in der Stadt, an denen dies der Fall zu sein scheint, gibt es Gebiete, die zu leben scheinen, die sich ausserhalb des Antiquierten befinden. Irgendwo in dieser Stadt müssen die Menschen, die hier leben ihr normales Leben führen können, so wie es die Menschen in anderen Städten vergleichbarer Grösse auch tun. Auf Giudecca findet sich das. Neben dem klotzigen Molino Stucky befinden sich entlang des Quais, der ständig im Schatten zu liegen scheint und von dem aus man einen Blick auf die Stadt werfen kann, einige Restaurants und Bars. Doch es sind dies Orte, wohin des mittags die Arbeiter ziehen und in blauen Überhosen dort ihr Arbeiteressen verzehren. Und in der Bar treffen sich die Einheimischen am Nachmittag zum Aperitivo. Geht man durch die Gassen und Gässchen hinein in die Insel, so kommen Wohnquartiere zum Vorschein. Ganz normale Siedlungen, wo die Wäsche zum Trocknen klischiert über die Gasse gespannt ist und wo an den Fenstern Fahnen und Banner angebracht sind, die mit No Grandi Navi gegen den Übertourismus in der Stadt protestieren.
Vis-à-vis von Giudecca finden sich auf Dorsoduro ebenfalls Refugien des Authentischen. In der Cantine del Vino già Schiavi gibt es keine Stühle, doch hier kehren Menschen ein. Touristen ebenso wie Menschen aus der Stadt. Denn Alessandra bereitet sechs Tage die Woche jederzeit frische Cichette zu. Ununterbrochen ist sie damit beschäftigt neue Köstlichkeiten zu fabrizieren, welche sie auf Scheiben von Weissbrot tut. Auf einer Brotscheibe sitzt dann vielleicht etwas Pecorino mit Trüffel, Ricotta mit Kürbis oder etwas Maionesa di Rosso d’uovo mit Fiori. Von diesen kleinen Portionen stellt die alte Frau Alessandra auf einem Teller eine Auswahl nach den Wünschen ihrer Kunden zusammen. Ihre erwachsenen Söhne stehen hinter dem Tresen, von wo sie Weine und Mischgetränke ausschenken. Die Cichetteria lebt.
Unweit davon liegt der Campo Santa Margherita. Hier stehen tagsüber Marktstände, an welchen frische Artischocken feilgeboten werden. Es spielen Kinder; Ältere sitzen auf Bänken und lassen die Zeit verstreichen. Am Abend verwandelt sich der Platz. Zahlreiche Bars lassen die Jugend der Stadt hier zusammenkommen. Stimmung wie an einem Fest herrscht. In dieser Februarnacht sind die Innenräume der Bars voll und draussen stehen zahlreiche Leute dichtgedrängt rauchend, trinkend, gestikulierend beieinander. Der Platz ist voller Leben, voller Nachtleben.
Bereits bei meiner Ankunft in dieser Stadt hatte ich mich gefragt: Wovon lebt die Stadt und lebt sie überhaupt? Venedig ist nicht tot. Neben der touristischen Tristesse hat die Stadt ihre Nischen, worin sich das urbane Leben eingenistet hat. Doch es ist marginal. An der Stadt fällt hingegen auf, dass Wasser und Stein einen Ort noch nicht besonders machen. Das Vergangene und das Vergängliche im Raum sind kein Selbstzweck, werden in Venedig aber so behandelt. Geschichte wird bespielt, was hier bedeutet, sie mit orangen Werbebannern zu verhüllen. Die Historizität ist in Venedig nicht greifbar. Dandolo, Manin und Radetzky; Seufzerbrücke, Rialto-Brücke und Ponte della Libertà; San Marco, San Giorgio und San Michele - nichts passiert.