Die Schweiz im 1. Weltkrieg. Ein Balanceakt

Am 3. August 1914, kurz nach dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, stattete die vereinigte Bundesversammlung den Bundesrat mit unbeschränkten Vollmachten aus. Mit den Vollmachten sollten Sicherheit, Integrität, Neutralität und wirtschaftliche Interessen der Schweiz bewahrt werden. Der an den Bundesrat gerichteten Auftrag verknüpfte die Neutralität demnach mit der Wahrung der territorialen Integrität und der Beibehaltung eines wirtschaftlichen courant normal, der zur Sicherung des Lebensunterhalts der Bevölkerung beitragen sollte. Die Absicht hinter der Neutralitätserklärung war die Aufrechterhaltung der Unabhängigkeit des Landes.

Ein zentrales Werkzeug zur Durchsetzung der neutralen Unabhängigkeit ist die militärische Nichtbeteiligung am Krieg, d.h. der Verzicht auf Kooperation mit den Kriegführenden. Dieses Abseitsstehen bezieht sich völkerrechtlich betrachtet seit der Ratifizierung der Haager Konvention 1907 nur auf den Bereich des Militärischen. In allen anderen Bereichen, wie beispielsweise dem Handel, dürfen die Neutralen weiterhin mit den Kriegführenden im Austausch stehen, so lange sie zu beiden Parteien eine gleichmässige Distanz wahren und keine Seite übermässig bevorteilen.
Mit der Aufrechterhaltung dieser Äquidistanz und mit der militärischen Nichtbeteiligung am Krieg versuchte die Schweiz den Ersten Weltkrieg als Friedensinsel zu überstehen.

Die Schweiz als Friedensinsel im 1. Weltkrieg. Votivbild in der Ranftkapelle.
Die Schweiz als Friedensinsel im 1. Weltkrieg, unter dem Schutz von Bruder Klaus. Votivbild in der Ranftkapelle (Hinter/Durrer, 1921).

Herausgefordert wurde die Neutralität der Schweiz im Ersten Weltkrieg zum einen durch die veränderbare Wahrnehmung der Neutralität von aussen durch die Kriegführenden sowie durch die delikate Zusammensetzung des Generalstabs.

Im Frühjahr 1917 verhandelte der Chef des Generalstabs, Theophil Sprecher von Bernegg, mit Frankreich über die sogenannte Eventualallianz, welche den militärischen Beistand Frankreichs im Falle einer deutschen Invasion in die Schweiz sicherstellen sollte und die zudem den Austausch von nachrichtendienstlichen Informationen besiegelte. Sprecher von Bernegg versicherte, dass die Schweizer Armee alleine kleine Grenzverletzungen abwehren könne. Dem misstraute die französische Seite und sie wollte im Falle eines Angriffs auf die Schweiz nicht auf ein offizielles Hilfegesuch aus der Eidgenossenschaft warten, sondern zur Abwehr der Invasion selbst schweizerisches Territorium betreten. Mit dieser Ausgangsläge wäre die Schweiz im Fall einer grösseren Grenzverletzung mit hoher Wahrscheinlichkeit zum Kriegsschauplatz geworden.
Hier zeigen sich zwei Probleme, welche die neutrale Position herausforderten. Zum einen ging der Generalstab mit seinen Absprachen eine militärische Kooperation mit einer kriegführenden Partei ein und brachte damit das Gleichgewicht aus der Waage. Andererseits wird ersichtlich, dass das grundlegende Element der neutralen Selbstbehauptung, nämlich die Fähigkeit zur eigenständigen Verteidigung des Territoriums, nicht alleine durch den Neutralen selbst, sondern vor allem durch die Wahrnehmung der aussenstehenden Kriegführenden beurteilt wird.

Das Problem, die gleichmässige Distanz zu den Kriegführenden durch militärische Kooperation zu verlieren und dadurch die neutrale Position zu gefährden, trat auch in einem anderen Fall, in der sogenannten Obersten-Affäre auf. Nachdem der Waadtländer André Langie den russischen Geheimcode geknackt hatte, erhielt er 1915 vom Generalstab den Auftrag in Bern russische Geheimbotschaften zu entschlüsseln. Im selben Jahr stellte sich heraus, dass der Schweizer Generalstab die von Langie decodierten Botschaften an den Nachrichtendienst des Deutschen Reichs weitergeleitet hatte. Die oberste Schweizer Militärführung kooperierte demnach auch mit den Mittelmächten.
Als Langie festgestellt hatte, dass die von ihm entschlüsselten sensiblen Nachrichten an das Deutsche Reich weitergeleitet worden sind, meinte er: «je veux bien travailler pour l’Etat-Major suisse, mais non pour l’Etat-Major allemand». Diese Aussage verdeutlicht die politisch brisante Zusammensetzung des Generalstabs. Diese Konstellation und die Handlungen der Akteure im Generalstab führten innenpolitisch zu einem stark aufgeladenen Klima der Unsicherheit und des Misstrauens. General Ulrich Wille und Generalstabschef Theophil Sprecher von Bernegg, die beiden obersten Militärs im Ersten Weltkrieg, waren beide germanophil und sympathisierten während des Krieges deutlich mit der deutschen Seite, ihnen Tat es ein guter Teil der Deutschschweizer Bevölkerung gleich. Hingegen orientierte sich die Romandie stärker nach Frankreich und unterstützte diese Seite im Krieg. Diese schwierige Konstellation mit der ungleichen Sympathieverteilung innerhalb des Landes und einem deutschlandfreundlichen Generalstab erschwerte die Aufrechterhaltung der inneren Einigkeit.

Der Schweizer Seiltänzer schwebt bedrohlich ĂĽber dem kriegerischen Abgrund, er muss den gallischen Hahn und den deutschen Adler ausbalancieren, denn “es geht darum ans Ziel zu kommen”.
Der Schweizer Seiltänzer schwebt bedrohlich ĂĽber dem kriegerischen Abgrund. Er muss den gallischen Hahn und den deutschen Adler ausbalancieren, denn “es geht darum ans Ziel zu kommen”.

Ein zu starkes Auseinanderdriften der Bevölkerungsgruppen gefährdete die Beibehaltung der neutralen Position, weil eine allfällige Annäherung an die eine kriegführende Partei von der anderen als einseitige Bevorteilung und somit als Bruch der Neutralität angesehen werden kann. Im schlimmsten Fall folgte für die Schweiz daraus die Verwicklung in den Krieg.
Die Beibehaltung der Äquidistanz zu den Kriegführenden wurde für die Politik und den Generalstab zu einem Balanceakt. Es ging darum, weder den Ansprüchen der Romandie noch der Deutschschweiz zu stark nachzukommen und weder den Alliierten noch den Zentralmächte einseitig Zugeständnisse zu machen. Nur wenn alle involvierten Parteien in einem gewissen Rahmen gleichbehandelt werden konnten, vermochte die Schweiz als Friedensinsel den Krieg unbeschadet zu überstehen. Misslingt der Seiltanz, droht der Sturz in den Abgrund. Der Neutralität kam deshalb eine sehr starke innenpolitische Integrationsfunktion zu, sie hatte eine ausgleichende Funktion und diente als Kitt zwischen den unterschiedlich orientierten Bevölkerungsgruppen.

Juni 2022


verwendetes Material (u.a.)

  • Alois Ricklin, Neutralität, in: Historisches Lexikon der Schweiz (https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016572/2010-11-09/)
  • Sitzung der Bundesversammlung vom 3.8.1914, in: Joseph Hardegger u.a.: Das Werden der modernen Schweiz, Bd. 2, Basel 1989, S. 9.
  • Brief von AndrĂ© Langie an den Vorsteher des Militärdepartements, 8.12.1915 (dodis.ch/43435).
  • Generalstabschef Theophil Sprecher von Bernegg an Bundespräsident Arthur Hoffmann, 7.4.1917 (dodis.ch/43565).
  • Postkarte aus der Zeit des Ersten Weltkriegs (1915), aus: HLS-Artikel zur Neutralität (s. oben).
  • Die Schweiz als Friedensinsel, Gemälde von Albert Hinter und Robert Durrer, 1921, aus: Regula Odermatt-BĂĽrgi, “Unser liebes Vaterland, wunderbar behĂĽtet und verschont”. Robert Durrer und das Votivbild im Ranft, in: Historischer Verein Nidwalden (Hg.), Nidwalden im Ersten Weltkrieg, Stans 2018, S. 161.