Neutralität als Überlebensstrategie

Mit dem Ausbruch des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine ist auf der innenpolitischen Bühne der Schweiz diejenige staatstragende Maxime ins Scheinwerferlicht getreten, die seit ihrem Ursprung mit dem Kriegszustand verbunden ist und deren Umsetzung stets zu spannungsgeladenen politisch-diplomatischen Konflikten im Inland sowie mit dem Ausland führt. Es geht um die Neutralität.

Über die Zeit durchlebte die Neutralität der Schweiz viele verschiedene Erscheinungsformen. Mal war sie immerwährend und bewaffnet, mal situativ; mal war sie integral, mal differentiell; und mal war sie als Stille sitzen bekannt. Bevor sich der Begriff der Neutralität im 17. Jahrhundert in der Schweiz durchsetzte, fasste das Stille sitzen zusammen, was auch der Kern der modernen Neutralität ist: sich nicht mit militärischen Mitteln am Krieg zu beteiligen und die Kriegführenden ansonsten möglichst gleich zu behandeln. Sich still zu verhalten, heisst keine Partei zu ergreifen.

Diese Handhabung der Neutralität fand Eingang in internationale Vereinbarungen. Gegenwärtig ist das Neutralitätsrecht in der Haager Konvention von 1907 festgesetzt. Hier ist geregelt, welchen Pflichten die Neutralen im Kriegsfall nachzukommen haben, damit ihnen im Gegenzug gewisse Rechte gewährt werden müssen. Die in den Konventionen festgehaltenen Rechte und Pflichten beschränken sich auf den rein militärischen Bereich und Regeln beispielweise den Truppendurchzug sowie Handel und Transit von Kriegsgütern.

Soweit die Theorie. In den Haager Konventionen wird Gewohnheitsrecht kodifiziert und als Völkerrecht dargestellt. Es stellt sich die Frage, wie nun dieses Völkerrecht angewandt wird, denn wie so oft ist die Realität komplexer als es das ordentlich paragraphierte normative Recht darzustellen vermag. Denn die Neutralität ist nicht gleichzusetzen mit der militärischen Ebene des Kriegs und dem Fernbleiben vom Kriegsschauplatz. Die praktische Ausgestaltung der Neutralität geschieht als permanenter Aushandlungsprozess: Handelsinteressen, geopolitische Grosswetterlage, diplomatischer Druck, politisches Kalkül sowie öffentlich artikulierte und scheinbar als kollektiv zu geltende Moralvorstellungen sind allesamt Faktoren, die beeinflussen, was am Ende effektiv neutral sein kann. Ein Teil dieser Prozesse, nämlich die Auslegung der Neutralität durch den Bundesrat und die Behörden, wird klassischerweise unter dem Begriff Neutralitätspolitik subsumiert.

Ende Februar verrückte das politische Fundament der Schweiz für einen Moment. Nach der Anerkennung der «Volksrepubliken» in Luhansk und Donezk durch Vladimir Putin am 21. Februar sprachen sich die bürgerlichen Parteipräsidenten Gerhard Pfister und Thierry Burkart dafür aus, möglichst sorgsam Sanktionen gegen Russland zu verhängen. Die vom Bundesrat ergriffenen Sanktionsumgehungsverhinderungsmassnahmen seien zu begrüssen. Drei Tage später standen russische Truppen in der Ukraine. Am 24. Februar hatte Vladimir Putin der Ukraine ihre Souveränität abgesprochen und einen Angriffskrieg in Europa entfacht. Innert wenigen Momenten hatte sich die innenpolitische Ausgangslage verändert. Gerhard Pfister und Thierry Burkart forderten den Bundesrat öffentlich dazu auf, sofort griffigere Sanktionen gegen Russland zu erlassen und sich dem Massnahmenkatalog der EU und der USA anzuschliessen. Burkart hielt fest, dass in einer solchen Situation wirtschaftliche Überlegungen vorübergehend zurückzustellen seien. Ungewohnte Worte für einen Vertreter des wachstumszentrierten, wirtschaftsliberalen Bürgertums.

Es macht den Anschein, als sei in den parteipolitischen Zentralen dieses Landes etwas in den Gang gekommen. Die sakrosankte Neutralität steht zur Debatte. Eine öffentliche Debatte fragt nach dem Wesen der Schweizer Neutralität, nach ihrem Nutzen, nach ihren Grenzen und nach ihrer Anwendbarkeit in der gegenwärtigen geopolitischen Einbettung der Schweiz. Es scheint, als habe die Schweiz für einen Moment vom Neutralen in den Ersten geschaltet, um nicht abgehängt zu werden.

Es ist eine aussergewöhnliche Situation, in der sich Europa befindet. Eine derart fundamentale Hinterfragung bisheriger Selbstverständlichkeiten, wie wir sie heute erleben, war noch Anfang Februar unvorstellbar. Die ausserordentlichen Tatsachen lösen überraschende Reaktionen aus. Der Grüne Vizekanzler Deutschlands, Robert Habeck, hält fest, dass wer die Sanktionen gegen Russland nicht mittrage und die Ukraine nicht tatkräftig unterstütze, der mache sich schuldig. Abseitsstehen hat in diesem Krieg demnach keine moralische Legitimation. Die Schweiz kommt in ihrer neutralen Position arg in Bedrängnis, denn hier kann sie sich moralisch nicht schadlos halten. Hinzu kommt, dass andere europäische Neutrale derweil in die NATO drängen. Die europäisch-westliche Staatenwelt ist sich in ihrer Haltung so einig, wie lange nicht mehr. Ihren klaren Positionsbezug will sie konsequent in der Praxis mit entsprechenden Massnahmen umsetzten. Wer ausschert, wird womöglich selbst mit Sanktionen gemassregelt. All diese Voraussetzungen bringen den eidgenössischen Fuchs, der sich bis dahin scheinbar dank seiner Schlauheit aus jedem den verheerenden europäischen Konflikten heraushalten konnte, unter Zugzwang.

Die hier aufskizzierten zeitgenössischen Umstände verdeutlichen einen wesentlichen Aspekt der Neutralitätsfrage, der in den innenpolitischen Diskussionen zuweilen zu wenig Beachtung erhält: Die Frage, ob und wie ein Staat in einem Kriegsfall die Neutralität ausleben kann, ist abhängig von aussen. Neutralität wird erst zum wirkungsvollen Instrument, wenn die Kriegführenden und deren Alliierte die neutrale Position formell anerkennen und in der Praxis auch beachten.
Seit dem Ende des 17. Jahrhunderts erklärte die Eidgenossenschaft bei jedem Kriegsausbruch ihre Neutralität. Bis zur napoleonischen Zeitenwende ging es bei jedem dieser Fälle darum, von den beiden damaligen Antagonisten – dem französischen König einerseits und dem habsburgischen Kaiser im Reich andererseits – die offizielle Anerkennung der Neutralität zu erhalten. Dies war allerdings keine Selbstverständlichkeit. Die Eidgenossenschaft lag damals stets am Rand der Schlachtfelder, die meist in Süddeutschland entlang des Rheins und in Norditalien lagen. Die Gefahr in den Krieg hineingezogen zu werden, war wesentlich grösser als heute. Bis jeweils die Wahrung der territorialen Integrität und die Möglichkeit zur Abschöpfung lukrativer Gewinnmargen, die im neutralen Zwischenhandel zu erzielen sind, sichergestellt waren, benötigte es viel diplomatisches Geschick. Die Gesandten der beiden Monarchen forderten von den Eidgenossen Zugeständnisse: an die Eidgenossenschaft angrenzende Territorien sollten neutralisiert und von den Eidgenossen bewacht werden, Truppendurchzüge sollen gestattet werden, Söldner sollen in den Krieg geschickt werden oder aufgrund angeblicher einseitiger militärisch-wirtschaftlicher Bevorteilung des Feindes durch die neutrale Position der Eidgenossenschaft soll die eigene Krone einen Ausgleich erhalten.

Auch nachdem 1814 die Neutralität der Schweiz auf dem Wiener Kongress völkerrechtlich als «immerwährend und bewaffnet» festgesetzt und damit zum vermeintlich fixen Rechtsbegriff wurde, hatte die Schweiz noch immer beim Ausbruch jeden Krieges bei den Kriegführenden eine Anerkennung ihrer Neutralität einzuholen, so auch beispielsweise im 1. Weltkrieg.
Dass die am Wiener Kongress definierte Neutralität zwar «immerwährend», deshalb aber nicht unumstösslich war, zeigte sich 1889/90 während des «Wohlgemuth-Handels». Aufgrund der Verhaftung des kaiserlichen Polizisten August Wohlgemuth in der Schweiz entspann sich eine diplomatische Affäre zwischen dem Deutschen Reich und der Eidgenossenschaft. Dabei drohte Reichskanzler Bismarck unter anderem damit, die Neutralität der Schweiz aufzuheben. Denn die Neutralität sei den Eidgenossen am Wiener Kongress von den dort verhandelnden Siegermächten zugestanden und festgeschrieben worden, somit könnten diese der Schweiz die Neutralität auch wieder entziehen.

Die formelle Neutralität eines Staates garantiert nicht automatisch, dass dessen Territorium stets vor Kriegshandlungen geschützt sein wird. Dies zeigt sich exemplarisch an den Schicksalen Belgiens und der Niederlande. Beide Staaten erklärten sich zu Beginn des 1. und des 2. Weltkriegs für neutral. In beiden Kriegen wurden die zwei Länder vom Krieg verheerend getroffen und zerstört.
«Unmoralisches Handeln» lässt sich legitimieren, auch wenn es nicht gerechtfertigt werden kann. Welche Rolle spielen «objektive Moral», Regelungen über Kriegsverbrechen und humanitäres Völkerrecht, wenn Autokraten und Diktatoren trotzdem Hass schüren und Gewalt verbreiten?

Es zeigt sich, dass eine einseitig proklamierte Neutralität keinen Wert hat. Neutralität kann erst erfolgreich umgesetzt werden, wenn sie unilateral ausgehandelt und akzeptiert ist. Alle Seiten müssen in der Neutralität eines Gemeinwesens einen Nutzen sehen. Folglich ist es sinnfrei die Auslegung der Neutralität unter Ausblendung der notwendigen diplomatischen Aushandlung, sondern auf dem rein innenpolitischen Weg festlegen zu wollen. So kann die Neutralität beispielsweise per Volksabstimmung in eine gewisse starre Form gepresst werden, diese Form wird aber nicht in die Realpolitik passen. Ein solcher Versuch ist aufgrund der äusseren Verflechtung der Schweiz zum Scheitern verurteilt.

Wie die Neutralität aussieht, wird also ausgehandelt und dies vor allem von äusseren Mächten. Die Wahrnehmung der neutralen Position von aussen ist viel wichtiger als die einseitige Proklamierung von innen.
Nach dem 2. Weltkrieg war das Ansehen der Schweiz bei den alliierten Siegermächten stark angekratzt. Das Lande hatte sich den Ruf eines opportunistischen Kriegsgewinnlers eingeheimst, der auch dann noch mit dem NS-Regime zusammenarbeitete, als dessen militärische Niederlage schon lange absehbar war. Dass die Schweiz mit dem nationalsozialistischen Deutschland bis zum Kriegsende kooperierte und wesentlich vom Handel mit den faschistischen Staaten Deutschland, Italien und Portugal sowie von der Annahme geraubter jüdischen Vermögen profitierte ist längs erwiesen und unstrittig. Allerdings tolerierten die Alliierten bis ins Kriegsjahr 1942 diese Umsetzung der Neutralität. Nach der Eroberung Frankreichs durch die Wehrmacht und der Installierung des Vichy-Régimes war die Schweiz umgeben von faschistischen Kräften. Die Kooperation mit diesen wurde als Überlebensstrategie geduldet. Erst mit den alliierten Erfolgen in Italien, in der Sowjetunion und in Frankreich veränderte sich der Blick auf die Positionierung der Schweiz. Erst dieser Wandel führte zur aussenpolitischen Stigmatisierung der Schweiz nach dem Krieg.
Als Reaktion auf die aussenpolitische Isolierung nach dem 2. Weltkrieg und um den Ruf der Schweiz wiederherzustellen, verfolgte Bundesrat Max Petitpierre ab den späten 1940er-Jahren eine aktive Aussenpolitik und brachte die Schweiz zusehends als Vermittlerin in die Staatenwelt ein. Die Neutralität wurde um die «Guten Dienste» erweitert.

Grundsätzlich und abschliessend lässt sich festhalten, dass die Neutralität immer einen lieu tiers benötigt. Ohne einen Krieg, auf den es sich zu beziehen gilt, hat die neutrale Position wenig Wert und Sinn, sie kann dann höchstens als aussenpolitisches Signal verstanden werden. Der Neutralität kommt zudem keine wesentliche sicherheitspolitische Bedeutung zu, weil die einseitige Proklamation nicht vor dem Einbezug in den Krieg schützt. Die Neutralität hat vor allem eine innenpolitische Funktion: sie stiftet Identität. Diesem Land, das durch die Kumulierung historischer Zufälle sowie durch die kluge Ausnutzung von Differenzen entstanden und zu seinem Wohlstand gekommen ist, mangelt es an historischen Ereignissen oder kulturellen Errungenschaften, die wirksam zu einer kollektiven Identität beitragen. So müssen Schlagworte wie Freiheit, Souveränität oder eben Neutralität als identitätsstiftende Werkzeuge dienen.

Februar / März 2022


verwendetes Material (u.a.)

  • div. Artikel in Der Bund vom Februar und März 2022.
  • Interview mit Sacha Zala vom Februar 2022 (watson).
  • Alois Ricklin, Neutralität, in: Historisches Lexikon der Schweiz (https://hls-dhs-dss.ch/de/articles/016572/2010-11-09/)
  • Axel Gotthard, Der liebe und werthe Fried. Kriegskonzepte und Neutralitätsvorstellungen in der frĂĽhen Neuzeit, Köln 2014.
  • Edgar Bonjour, Geschichte der schweizerischen Neutralität. Vier Jahrhunderte eidgenössischer Aussenpolitik, 9 Bde., Basel/Stuttgart 1965-1976.
  • Éric Schnackenbourg, Entre la guerre et la paix. NeutralitĂ© et relations inter-nationales, XVIIe-XVIIIe siècles, Rennes 2019.
  • Paul Schweizer, Geschichte der schweizerischen Neutralität, Frauenfeld 1893.
  • Thomas Maissen, Wie aus dem heimtĂĽckischen ein weiser Fuchs wurde. Die Erfindung der eidgenössischen Neutralitätstradition als Anpassung an das entstehende Völkerrecht des 17. Jahrhunderts, in: Michael Jucker et al. (Hg.). Rechtsformen internationaler Politik, Berlin 2011, S. 241-272.